Migrationsminister: Europäische Lösung für europäisches Problem – Mitarachi lobt Fortschritte Athens bei Unterbringung und Asylverfahren.
(Das Interview führte Filippos Sacharis/APA)
In der Flüchtlingsfrage erinnert Griechenland die übrigen Mitgliedsstaaten einmal mehr an ihre Verantwortung. Derzeit trage Griechenland als eines der Erstaufnahmeländer in der EU weiterhin eine “überproportional große Last”, betonte Migrationsminister Notis Mitarachi im Interview mit der APA in Athen. Er forderte ein “klares Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten”, denn die Migrationsfrage betreffe ganz Europa.
Griechenland habe in den vergangenen Monaten große Fortschritte in seiner Asylpolitik erzielt, erklärte Mitarachi. Sein Land schütze die EU-Außengrenze “unter voller Achtung des Völkerrechts und der europäischen Werte”, heile “die Wunden der Migrationskrise” und sei auch bereit, sich weiterhin den Herausforderungen zu stellen. Doch ein europäisches Problem bedürfe auch einer europäischen Lösung, hielt der Minister fest.
Solidarität dürfe sich nicht auf “unbestimmte Versprechungen und materielle Leistungen beschränken”, appellierte er an die anderen EU-Staaten. Bei Österreich bedankte sich Mitarachi für die Hilfslieferungen nach dem verheerenden Brand in dem Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos. Die ÖVP weigert sich indes nach wie vor, Geflüchtete aus Griechenland aufzunehmen.
Das Interview im Wortlaut:
APA: Wie schwierig ist die Flüchtlingssituation in Griechenland?
Mitarachi: Griechenland trägt weiterhin eine überproportional große Last in der Flüchtlingskrise. Dank harter Arbeit gab es aber in den letzten Monaten eine klare, substanzielle Veränderung. Trotz der anhaltenden Pandemie und anhaltenden Belastung geht es uns in allen Bereichen der Migrationspolitik besser als früher. Wir haben bisher alle Ziele der nationalen Migrationsstrategie 2020/2021 erreicht.
APA: Was sieht es mit Flüchtlingsbewegungen aus der benachbarten Türkei aus? Wird das Abkommen mit der EU eingehalten?
Mitarachi: Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei verpflichtet die Türkei, Flüchtlingsbewegungen nach Europa auf dem Land- und Seeweg zu blockieren bzw. zu verhindern sowie diejenigen zurückzunehmen, die keinen Anspruch auf internationalen Schutz haben. Wir nehmen weiterhin Geflüchtete aus der Türkei auf, insgesamt 15.000 im laufenden Jahr. Seit März letzten Jahres hat unser Nachbarland aber keine Menschen mehr zurückgenommen. Das ist eines der Themen, das die EU derzeit im Zuge der Verhandlungen über den neuen Migrations- und Asylpakt diskutiert.
APA: Das Aufnahmezentrum in Moria (auf Lesbos, Anm.) war laut einigen Zeitungsberichten menschenunwürdig. Auch über das neue, nach dem Brand von Moria errichtete Aufnahmezentrum “Kara Tepe” gibt es viele negative Berichte. Was sagen Sie dazu?
Mitarachi: Das neue Flüchtlingslager in Mavrovouni (Kara Tepe), das wir unter extrem außergewöhnlichen Bedingungen schnell errichtet haben, ist viel besser als Moria. Bauarbeiten zur Verbesserung der Lebensbedingungen, Projekte zum Schutz vor Überschwemmungen und zur Verbesserung der Elektrizität sind in vollem Gange. Im kommenden Jahr werden zudem auf den Inseln sowie auf dem Festland die neuen kontrollierten Flüchtlingsunterkünfte in Betrieb sein. Damit bieten wir noch bessere Lebensbedingungen und Infrastruktur, sichern die Gesundheitsstandards und erhöhen die Sicherheit innerhalb und außerhalb der Einrichtungen.
Gestatten Sie mir übrigens, der österreichischen Regierung für ihre Unterstützung und insbesondere dem Innenminister Karl Nehammer (ÖVP, Anm.) für die ausgezeichnete Zusammenarbeit zu danken. Ich bedanke mich bei Österreich sowohl für die sofortige Hilfe und Reaktion nach der Brandstiftung in Moria, die Spenden von Containern und Krankenwagen an die fünf nordägäischen Inseln sowie auch für die praktische Hilfe bei der Überwachung und dem Schutz unserer Grenzen.
APA: Wie viele Flüchtlinge wurden bisher von den Inseln aufs Festland gebracht? Gibt es eine geeignete Infrastruktur dafür? Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um sie vor dem Coronavirus zu schützen?
Mitarachi: Ich beginne mit der zweiten Frage. Wir haben frühzeitig strenge Maßnahmen ergriffen und sowohl an den Einreisepunkten als auch innerhalb und außerhalb der Flüchtlingsunterkünfte des Landes kontrolliert und so die Infektionsrate niedrig gehalten. (…) Zusätzlich werden Isolationsräume innerhalb der Registrierzentren in Betrieb sein und sofortige medizinische Hilfe wird zur Verfügung stehen. Zudem findet Contact Tracing statt. Wenn die erkrankten Flüchtlinge völlig genesen sind, dürfen sie zurück in ihre Zelte.
Was die Situation auf den Inseln betrifft, so konnten wir diese 2020 wesentlich entlasten und konnten mit der Kapazitätsplanung Schritt halten.
APA: Verstehen Sie manche Einheimische, die sich gegen die Flüchtlingszentren in ihren Gemeinden stellen?
Mitarachi: Ich verstehe, respektiere und teile voll und ganz die Sorge der lokalen Gemeinden. Vor allem der Inselbewohner, die seit vielen Jahren die Last der Flüchtlingskrise für ganz Europa getragen haben. (…) Wir glauben aber, dass wir den Einheimischen bewusst machen konnten, welche Arbeit in den letzten Monaten geleistet wurde, und stellen nun einen Wandel fest. Ich glaube, dass wir allmählich wieder ein Vertrauensverhältnis zu den Bürgern herstellen konnten – sowohl auf den Inseln als auch auf dem Festland.
APA: Was können Sie über den Asylprozess in Zeiten der Pandemie erzählen?
Mitarachi: Trotz der Schwierigkeiten der Pandemie arbeitet die griechische Asylbehörde am schnellsten in Europa. Wir konnten im Vergleich zum Vorjahr um 73 Prozent mehr Bescheide ausstellen und die ausstehenden Entscheidungen um 38 Prozent reduzieren. Diese Tatsache in Verbindung mit der Reduktion der Flüchtlingsströme, der Rückkehr jener, die keinen Anspruch auf Asyl haben und der freiwilligen Umverteilung von Geflüchteten führten zum gewünschten Ziel der Entlastung. Menschen, die in unser Land kommen, können nun binnen sechs Monaten eine endgültige Entscheidung erhalten. Die rasche Zustellung von Asylbescheiden ist ein grundlegendes Menschenrecht.
APA: Wie lange kann Griechenland die große Zahl von Geflüchteten noch stemmen? Welche konkrete Vorschläge haben Sie in Bezug auf die Umverteilung auf andere europäische Länder?
Mitarachi: Die fünf Inseln in der Nordägäis und Griechenland als Ganzes haben die Hauptlast der Flüchtlingskrise in Europa getragen. Wir schützen unseren Grenzen, die auch europäischen Grenzen sind, unter voller Achtung des Völkerrechts und der europäischen Werte, und heilen die Wunden der Migrationskrise sowohl für die griechischen Bürger als auch für die ausländischen Asylsuchenden. Wir gewinnen die Kontrolle über die Migrationsfrage zurück, übernehmen Verantwortung und stellen uns den Herausforderungen.
Aber wir wollen nicht, dass unser Land das Tor für Einwanderer wird. Wir werden selbstverständlich verhindern, dass unser Land ein “Lager” für diejenigen wird, die Anspruch auf internationalen Schutz in Europa haben. Wir fordern unsere europäischen Partner auf, die Last im Rahmen der europäischen Solidarität zu verteilen.
APA: Wie kann die EU die Flüchtlingskrise in den Griff bekommen?
Mitarachi: Die Verhandlungen über einen neuen Pakt sind im Gange. Europa wird aufgefordert, praktische Solidarität zu zeigen. Eine Solidarität, die sich nicht auf unbestimmte Versprechungen und materielle Leistungen beschränken darf. Es muss ein klares Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten geben. Die Migrationskrise betrifft ganz Europa.
Die EU-Mitgliedstaaten, unsere europäischen Partner, müssen ihren Teil der Verantwortung übernehmen und die Umverteilung mit einem verbindlichen System im neuen Pakt ratifizieren. Neben einer Reduktion der Flüchtlingsbewegungen muss der neue Pakt eine proportionale Lastenverteilung in allen EU-Staaten vorsehen. Es handelt sich nicht um ein griechisches Problem, sondern um ein europäisches Problem. Dementsprechend brauchen wir eine europäische Lösung.
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